Leseprobe: Kaden, Schelme

Der Meerrettich-Louis
Louis Fritzsche - Ein Leben im Bobritzscher Wald

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Die Spur des 1851 geborenen Jungen verliert sich und taucht erst Jahrzehnte später, etwa 20 Kilometer südöstlich seines Geburtsortes, wieder auf. In der Ölmühle der Gemeinde Friedersdorf erschien jährlich zu Beginn der kalten Jahreszeit ein Louis Fritzsche. Und obwohl der Ölmüller Heinrich August Schlegel elf Kinder zu ernähren hatte, meinte die Mutter der zahlreichen Schar, auch diesen Wintergast noch mit satt zu kriegen.
Der dort den Winter verbrachte, war jener Ernst Louis Fritzsche aus Oberhaselbach, für den einst sein Vater eine bessere Zukunft geplant hatte. Man nannte den Mann allerdings nicht Herr Fritzsche, sondern jeder sprach nur vom Meerrettich-Louis. Seine äußere Erscheinung zeugte ebensowenig von Wohlstand wie seine "Villa" im Bobritzscher Gemeindewald. Die war nämlich so ärmlich, daß der Winterschlafplatz im Pferdestall der Friedersdorfer Ölmühle unbedingt gebraucht wurde, sonst wäre der Louis erfroren. Und verhungert wäre er auch, hätte er in der Mühle nicht sein Stück Brot, ein paar Pellkartoffeln und dazu die nahrhafte Leinölbutter bekommen. Diese Zutat trug zwar den feinen Namen Butter, bestand jedoch nur aus Roggenmehl und Leinöl. Als Brotaufstrich und als Beigabe zu den Kartoffeln erfüllte die Leinölbutter ihren Zweck, sie war gesund und machte satt, wenn sie auch den Müllerkindern, wie sie zu sagen pflegten, "zum Hals heraushing" und sie sich gerne mal fürs Abschreibenlassen eine Leberwurstbemme bei den Kindern aus etwas begüterten Familien ergatterten. Dem Louis hingegen schmeckte jede Speise. Da er die meiste Zeit von Almosen lebte, konnte er keine Ansprüche stellen. Eines mußte man ihm bescheinigen, er bezahlte jede Wohltat mit seiner eigenen Fritzschewährung, die sich Meerrettich nannte.
Den Sommer über lebte er im Gemeindewald in seiner Hütte, die aus Brettern, Laub, Moos und Gras bestand. Sein Tagewerk begann der Eremit am Bobritzscher Teich, denn dort gedieh prächtiger Meerrettich. Der Louis grub die Wurzeln aus, säuberte und bündelte die Stangen und begab sich danach auf Geschäftsreise. Die Frauen in den Dörfern begehrten die scharfen Stangen, und wenn sie eine davon über das Reibeisen führten, sprangen ihnen die Tränen nur so aus den Augen. Sie wußten, keiner liefert so guten Meerrettich wie der Louis, deshalb nannten sie den Mann auch einfach Meerrettich-Louis. Kaum eine seiner Kundinnen kannte seinen richtigen Namen.
Wenn auf einem Hofe Schweineschlachten angesagt war, benötigte man die tränentreibende Zutat, denn Schweinebauch in Meerrettichsoße und dazu grüne Klöße stellten ein wahres Festessen dar. Gern gaben die Frauen dem Louis für seine Ware ein Stück Brot, abgelegte Kleider oder die Reste vom Mittagessen.
Aber nicht nur in Klein-, Nieder- und Oberbobritzsch, in Friedersdorf, Hartmannsdorf und Reichenau hatte er seine Abnehmer. Oben am Kamm an der böhmischen Grenze gab es etliche Gasthäuser, die den Sommerfrischlern und Wintersportlern warme Mahlzeiten offerierten. Kam der Meerrettich-Louis von Zeit zu Zeit daher und bot seine Wurzeln an, konnte er damit rechnen, einige Pfennige zu verdienen. Eine gute Mahlzeit spendierten die Wirte allemal.
Somit konnte sich der Louis als wichtiger Geschäftspartner der Hausfrauen und des Gaststättengewerbes betrachten. Dieser Status brachte ihm jedoch weder Wohlstand noch bürgerliche Anerkennung ein. Als Sonderling in zerschlissenen Kleidern und kaputten Schuhen zog er seine Straße …