Leseprobe: Behnert, Schachtziege

Das Gegenort

Ein Septembertag 1967. In der Steigerstube der 6. Abteilung des Martin-Hoop-Werkes IV herrscht zum Frühschichtrapport aufgekratzte Stimmung. Reviersteiger, Schichtsteiger und die Hauer der Gegenorte tauschen letzte Informationen aus. Das Gegenortverfahren ist eine komplizierte Flözauffahrung mit zwei gegenläufigen Vortrieben, die zentimetergenau aufeinandertreffen müssen. Dieser Höhepunkt wird dann entsprechend gefeiert. Gerhard und Siegfried sind die eine Ortsmannschaft, Horst und Manfred bilden die zweite auf der Gegenseite. Um 11 Uhr etwa soll die 160-Auffahrung im Lehekohlenflöz durchschlägig werden. "Kannst schon 'ne Flasche Sekt kalt stellen, Helm!" flachst Gerhard, einer der vier Hauer, in Richtung Reviersteiger. "Wenn du sie bezahlst, gern!" antwortet der knausrige Revierchef. "Und schick uns Wolfgang zum Holztransport!" ruft Siegfried noch beim Abgang.

Ablösung der Nachtschichtbelegung vor Ort. Kurze Lagebesprechung. Horst und Manfred müssen die Reste des Haufwerkes wegsacken, den Ausbau des Vortriebes komplettieren und den Panzerförderer bis zur Ortsbrust verlängern.
"He, Wolfgang", ruft Horst den Holztransporteur, "wir brauchen Bolzen und Kappen für zwei Baue, mach mal Betrieb!" Holztransport in einer Auffahrung ist Galeerenarbeit. Wolfgang beißt sich durch, schweißnaß und schwer atmend.
Manfred hat inzwischen die Scheibe zur Sprengung vorbereitet. Wolfgang, nach erledigtem Auftrag wieder vor Ort, beobachtet alles interessiert. "Hol mal aus dem Gegenort von Gerhard und Siegfried vier Bausenkel. Sag der Truppe, daß wir dich schicken!" beauftragt ihn Manfred, der Schießhauer. Bis zum Streckentelefon haben sie gemeinsamen Weg. Während der Holztransporteur weitermarschiert, greift Manfred zum Telefon. Er fordert Siegfried im Gegenort auf, Sicherheitsabstand einzunehmen und das Ort abzusperren. Danach eilt er wieder zurück und zündet die Sprengserie. "Wumm, wumm, wumm", detonieren dumpf mehrere Ladungen.
Nach Abzug der Schießgase betrachten die Hauer ihr Werk.
"Genau so habe ich es erwartet", murmelt Manfred wie im Selbstgespräch. "Siehst du an der Firste das kleine Loch?" wendet er sich an seinen Gesellen. "Komm, Horst, wir müssen es vergrößern und die Gegenpartie begrüßen."
Kaum haben sie den Durchschlag erweitert, tauchen Gerhard und Siegfried, die Mannschaft vom Gegenort, auf. Allgemeines Hallo und Händeschütteln. Dann wechseln beide Mannschaften schnell durch das entstandene Loch die Plätze und verdecken es wieder mit Kohlebrocken. Horst und Manfred warten auf Wolfgang, den Holztransporteur. Nach einem Weg über die 160-Fußstrecke, Kohlebunker, Querschlag, Blindschacht 42 und 160-Kopfstrecke trifft dieser im Gegenort ein. Verwirrt und ungläubig starrt er Manfred und Horst an, die er vor 30 Minuten verlassen hat!


"Das gibt's doch gar nicht - wo sind denn Gerhard und Siegfried?" "Na, was guckste denn so dumm aus der Wäsche? Haste die Bausenkel mitgebracht?" fragt Horst betont scharf. "Nein ... ich ... wieso ...", stammelt Wolfgang. "Also warste noch gar nicht im Gegenort? Hast dich wohl verlaufen? Das ist uns früher auch mal passiert!" Die beiden Hauer blicken sich verständnisvoll an. "Mach dich nochmal auf die Socken, aber verlauf dich nicht wieder!" Wolfgang macht sich kopfschüttelnd auf den Weg. Schmunzelnd wechseln die vier Hauer wieder durch das Loch ihren Arbeitsort. Nach 30 Minuten erscheint Wolfgang erneut. Je näher er den zwei schaufelnden Hauern kommt, um so langsamer wird sein Schritt. "Mein Gott", ruft er, "das seid doch wieder ihr!" Fassungslos sinkt er auf einen Holzabschnitt und greift sich an den Kopf. "Wo sind denn nun die Bausenkel, du warst doch schon zweimal auf Achse?" fragt Manfred ungehalten. "Ich versteh das alles nicht mehr", jammert Wolfgang. "Ich bin doch den richtigen Weg gelaufen!" "Das kann nicht sein", belehrt ihn Horst, "sonst wärst du ja nicht wieder hier gelandet! Bist du im Blindschacht 42 gefahren oder geklettert?" "Wegen Havarie mußte ich die Fahrten nehmen", murmelt er wie ein gebrochener Mann. "Vielleicht haste die Sohlen verwechselt?" Stumm schüttelt Wolfgang den Kopf. Ihm ist das alles unbegreiflich! Manfred faßt ihn an der Schulter. "Wolfgang, da mußte durch! Wir beschreiben dir den Weg genau, und dann gehste ihn nochmal. Im Schacht gibt's doch keine unerklärlichen Dinge!" Wolfgang erhebt sich mühsam und wandelt wie im Traum davon. Die beiden Hauer öffnen wieder das Loch und klettern zu Gerhard und Siegfried. "Wir müssen das Schauspiel beenden", erklärt Horst den beiden, "der Wolfgang dreht sonst noch durch. Wir bleiben hier zusammen, bis er kommt."
Am Blindschacht 42 läuft Wolfgang dem Steiger in die Hände und wird gefragt, was er denn hier zu suchen habe. Mit zitternder Stimme und fahrigen Handbewegungen schildert der Holzschlepper die Rätsel der letzten Stunde. Dem Steiger ist sofort klar, was hier gespielt wird. "Komm", sagt er, "ich gehe mit in die Auffahrung", verrät aber mit keinem Wort, was er ahnt. Als sie die vier Hauer erreicht haben, ist es für Augenblicke still. Bei Wolfgang beginnt es zu dämmern.
"Gratuliere zum präzisen Durchbruch", überbrückt der Steiger die etwas betretene Situation. Das nun ausbrechende Gelächter hört sich an wie eine Entschuldigung.
Wolfgang zählt noch heute diese Schicht zu den unvergeßlichen Begebenheiten seines langen Bergmannslebens.