Leseprobe: Kaden, Phantasten
Der Gustav Roscher aus Schwarzenberg
An seiner Gewandung konnte man leicht ersehen,
daß der Mann nicht gerade mit Reichtümern gesegnet
war. Seinen Mantel, dem ein Strick als Verschluß diente,
hatte er einer Vogelscheuche, die auf einem Feld bei Raschau aufgestellt
worden war, ausgezogen. Alle weitere Bekleidung stammte aus Spenden.
So armselig wie sein Äußeres war auch seine geistige
Verfassung, der Tav konnte weder lesen noch schreiben. Ansonsten
gibt es nichts gegen ihn zu sagen, er war ein lustiger Kerl, der
mit Fröhlichkeit und Witz sein Leben verbrachte. Am Ende
ist es ihm sogar gelungen, ein ehrenvolles Begräbnis zu ergattern,
das einem General angestanden hätte.
Obwohl der Roscher-Tav keine guten Taten oder besondere Leistungen
vollbracht hat, liebten ihn die Leute. Zwischen Elterlein und
Schwarzenberg war er bekannt. Wo er auftauchte, hatte man seinen
Spaß mit ihm.
Als Gelegenheitsarbeiter verdiente er sich den notdürftigsten
Lebensunterhalt, und einen Schlafplatz fand er stets irgendwo.
Für die materiellen Dinge im Leben zeigte der Tav nur das
allergeringste Interesse. Wenn es im Winter einmal zu kalt wurde,
besorgte er sich aus der "öffentlichen Feldkleiderkammer"
noch eine Hülle. Er wußte schon, mehrere Schichten
übereinandergezogen, halten besser warm als ein dicker Mantel.
Gearbeitet hat der Gustav eine Zeitlang in einer Holzschleiferei,
später spezialisierte er sich aufs Holzhacken. Diese Arbeit
verstand er zwar perfekt, erledigte sie aber oft nach seinem eigenen
Willen. Um bei der Wahrheit zu bleiben, gern oder gar schwer zu
arbeiten war nicht seine Sache. Wenn er in Raschau beispielsweise
am Hackstock stand, und ein schweres verwimmertes Stück kam
ihm unter die Hände, dann mühte er sich nicht erst lange
damit ab. Er warf die Wurzel der Einfachheit halber in die Mittweida,
den Dorfbach. Wenn die Holzstücke dann bei Hochwasser weiter
unten am Wehr hängenblieben, wußten die Leute, der
Roscher-Tav hat Holz gehackt. Vorhaltungen brauchte man ihm deshalb
nicht zu machen, er quittierte jede Kritik mit einem breiten Lächeln
und einem unschuldigen Augenaufschlag. Dem ärgerlichen Auftrag-geber
blieb keine Wahl, er mußte einfach lachen.
Den Gustav brachte selten etwas aus der Ruhe, selbst die Neckereien
der Kinder und Jugendlichen ließ er friedvoll über
sich ergehen. Wurden die Halbwüchsigen aber zu übermütig,
dann konnte ihn das schon in Rage versetzen, und Gustavs laute
krächzende Stimme hallte durch die Straße.
Laut wurde er auch einmal bei einem anderen Schicksalsschlag.
Sein Gebiß glich immer schon einem schlecht abgebauten Steinbruch.
Ihm machte das nichts aus, seine Nahrung kaute er auf den wenigen
Zähnen, die ihm geblieben waren, etwas länger. Sehr
zu paß kam ihm, wenn er zu seinen Mahlzeiten etwas Flüssiges
zum Titschen vorfand, und Eitelkeit plagte ihn nicht. Eines Tages
jedoch machte sich so ein Zahnstummel bösartig bemerkbar.
Voller Schmerzen kehrte er beim Schuster Röbert in Raschau
ein und klagte sein Leid. Der versprach Hilfe. Das Ende von einem
Stück Schusterdraht befestige er um den kranken Zahn. Tav
mußte sich niederknien, und das andere Ende wurde in der
Holzdielung befestigt. So was konnte man wirklich nur mit dem
Gustav machen! Als sich der Patient, halb auf dem Fußboden
liegend, in äußerst unbequemer Lage befand, stach ihm
der hinterhältige "Doktor" mit einer Schusterahle
in den Allerwertesten. Mit einem lauten "Au!" fuhr der
Leidende in die Höhe - und war von dem Plagegeist befreit.
Erst schimpfte er noch ein wenig und rieb sich sein Hinterteil,
aber bald strahlte er wieder und freute sich, daß er das
Ärgernis los war.
Ein ebenfalls sein Wohlbefinden vorübergehend einschränkendes
Erlebnis hatte er einstmal auf der Annaberger Kät. Voller
Staunen stand der Roscher-Tav vor dem großen Riesenrad.
Einige junge Burschen fragten hinterlistig: "Solln mir dir
mol su eene Fahrt bezohln?"
Ein Grundprinzip im Leben des Mannes lautete: Niemals ein Geschenk
ablehnen! Also stimmte er dem Angebot zu. Der Riesenradbetreiber
war bestochen und ließ das Rad in einigen Schnellrunden
sausen und schließlich die Gondel mit dem ungeübten
Gast ganz oben stehen. Einige Zeit verhielt sich der Riesenradfahrer
still, dann aber krähte er von oben herab, daß es über
den Festplatz schallte: "Herr Riesenrad, Herr Riesenrad,
halten se auf, un lossen se miech wieder runter! Iech muß
speie!"
Das Gaudi auf dem Platz war unbeschreiblich. In eine Riesenradgondel
soll Gustav nie wieder gestiegen sein.
War der Tav in einem Hauswesen zum Holzhacken bestellt, erhielt
er dort auch sein Mittagessen. Mit Appetit verzehrte er alles,
was man ihm anbot. Einmal fragte ihn die Hausfrau, ob er auch
noch Kompott haben wolle. Er antwortete treuherzig: "Weeßte,
aus Kompott mach ich mr grod nischt draus, aber paar sette rute
Pflaume tät ich schie gern essn!"
Manche Begriffe waren dem Unikum eben nicht geläufig, was
aber nicht besagt, daß er sich um Gott und die Welt nicht
so seine Gedanken gemacht hätte. Als er zum Beispiel in Schlettau
schwer hinfällig im Krankenhaus lag, bekam er Besuch vom
Pfarrer. Um das Seelenheil des etwas aus dem Rahmen fallenden
Mannes besorgt, fragte ihn der Diener Gottes, ob er etwas über
den lieben Herrgott wisse. Die Antwort des Befragten entbehrte
nicht gewisser philosophischer Überlegungen:
"Ach, Herr Pastor, do weß ich viel: Dr liebe Gott is
der, der is Gros wachsen läßt, de Baam blühe läßt
und ah de vieln schinn Blume of dor Wies un in de Gärtn."
Nach einer langen Pause setzte er zu einer Frage an: " Blus
aans, Herr Pastor, des verstieh iech net, wos macht dar eigentlich
im Winter?" Die Antwort des Geistlichen ist leider nicht
überliefert.
Seine letzte Zeit verbrachte der Lebenskünstler in Frohnau
im Altersheim. Im Jahre 1938 machte er sich schließlich
auf, um nachzusehen, was der liebe Herrgott im Winter macht.