Leseprobe: Behnert, Kohleberg
Die aufgebrachte Dame
1965 wurde die Untere Bank des Tiefen Planitzer
Flözes, auch Amandusflöz genannt, in vier Scheiben abgebaut.
Die vier Abbaue erhielten die Bezeichnung 810B, 810C, 810D und
810E. Von den Bergleuten wurden sie nicht mit den Buchstaben,
sondern mit Eigennamen bezeichnet, zum Beispiel "Dora"
für D oder "Erika" für E.
Der Abbau der einzelnen Flözscheiben erfolgte von oben nach
unten. Die jeweils folgende Scheibe hatte demzufolge keine feste
Gesteinsschicht im Hangenden, sondern nur den eingebrachten, noch
nicht verfestigten Blasversatz der vorher abgebauten Scheibe.
War die Stoßgasse ausgekohlt, konnte der Panzer nicht auf
übliche Art gerückt, das heißt als Ganzes verschoben
werden, denn dazu hätte man die bereits vorher gestellten
Holzstempel wegschlagen müssen, was zum Hereinbrechen des
Blasversatzes geführt hätte. Der Panzer mußte
deshalb in seine Teile zerlegt, in die ausgekohlte Gasse transportiert
und wieder zusammengebaut werden. Bergmännisch hieß
das: den Panzer "umlegen".
Martin Gonsior und Günter Döhler, zwei Steiger in der
1. Abteilung des Karl-Marx-Werkes, besteigen in Marienthal die
Straßenbahn zum Poetenweg. Sie haben Mittagschicht. Ihnen
gegenüber sitzt eine ältere Dame und schaut nach dem
pulsierenden Straßenverkehr. Am Gespräch der beiden
ist sie scheinbar uninteressiert. In Wirklichkeit spitzt sie die
Ohren und läßt sich kein Wort entgehen.
Martin und Günter reden über die Arbeit und über
die Aufgaben der Mittag- und Nachtschicht. Der Inhalt des Gesprächs
ist für die Dame nicht immer verständlich, da sie sich
mit bergmännischen Begriffen nicht auskennt. Als das Wort
"Weiberarsch" fällt, stutzt sie und nimmt die beiden
kritisch ins Visier. Schließlich faßt Günter
Döhler das Gespräch zusammen: "Also, heute Nacht
legen wir die Dora um!" Martin Gonsior nickt. Dann antwortet
er: "Und morgen ist die Erika dran!"
Der alten Dame stockt der Atem. Mit flammender Röte im Gesicht
erhebt sie sich. Könnten Blicke töten, wären beide
Steiger sofort leblos umgefallen. "Sie schamlosen Ferkel!"
preßt sie hervor. "Müssen Sie schon mittags in
der Öffentlichkeit erzählen, was Sie am Abend vorhaben?
Diese bedauernswerten Frauen! Schämen Sie sich!" Würdevoll,
wie eine in voller Brise stehende Fregatte, rauscht sie davon
und steigt an der nächsten Haltestelle aus. Sie hinterläßt
zwei Männer, die vor Überraschung zuerst sprachlos sind,
dann aber in so lautes Lachen ausbrechen, daß mancher Fahrgast
erschrocken auffährt...