Leseprobe: Behnert, Grubenfahrt
Die letzte Grubenfahrt der Schachtziege
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Die bevorstehende Befahrung durch das medizinische Personal hat
per Buschfunk natürlich längst die Runde gemacht. Und
so fühlen sich auch andere Kumpel unter Tage angesprochen,
ihren qualifizierten Anteil an der Verknackerei der "Neuen"
zu leisten. Und nicht nur ihnen soll ein Streich gespielt werden!
In drei Tagen kann man vieles organisieren! Schwester Marianne
hat folgsam in der Nachbarschaft beim Bauer Landrock einen kleinen
Sack Heu erstanden. Ihre Antwort auf seine Frage, wozu sie das
Heu brauche, veranlaßt ihn zu einem breiten Grinsen. Die
"Mannschaft" aus dem Gesundheitswesen steigt an jenem
Sonnabend an der Hängebank in das Fördergestell. Der
Anschläger läßt für Marianne mit dem Heu
eine Lobpreisung vom Stapel. Im Füllort angekommen, verspüren
sie alle einen deutlichen Druck in den Ohren. Benommen schauen
sie sich um. Für sie eine unbekannte Welt. Die Kumpel am
Füllort grüßen die Delegation mit freundlichem,
respektvollem "Glück auf". Aber das Lächeln,
mit dem sie Paul Götz per Handschlag begrüßen,
ist mehr ein hämisches Feixen. Soll es signalisieren: Es
liegt etwas in der Luft? Der Fahrgehilfe geht mit der Gruppe zur
nahe gelegenen Hauptgezähkammer, vor der ein Hunt steht mit
der Aufschrift "Futter für's Häppl". "Ich
muß mich bei Ihnen entschuldigen", sagt unerwartet
Paul Götz und wendet sich besonders an Schwester Marianne,
"heute ist nämlich die Schachtziege nicht da. Sie ist
Übertage auf der Wiese. Sie braucht jeden dritten Tag frisches
Grün und Tageslicht, damit sie nicht erblindet wie früher
die Pferde. Schwester Marianne, Sie können das Heu in den
Hunt werfen! Sie frißt es dann später!" Schwester
Marianne ist enttäuscht und auch etwas erleichtert. Hatte
sie doch keine so rechte Vorstellung von der Schachtziege, und
ein bißchen unheimlich war ihr die Sache auch.
"Warum sagten Sie, sie sei sehr, sehr
alt und gewissermaßen ein historisches Wesen?" fragt
sie nun Paul Götz. "Nun", antwortet er belehrend,
"natürlich ist die Schachtziege über einen langen
Zeitraum nicht ein- und dieselbe. Um die Art zu erhalten, wird
sie zu gegebener Zeit zum Bock geführt, und der Nachwuchs
übernimmt dann sozusagen den Staffelstab, wenn ich mich mal
so ausdrücken darf!" Während er weiter schwadroniert,
ertönt plötzlich, völlig überraschend, ein
lautes "Määh, määh, määh".
Ein Kumpel von der Füllortbesatzung geht, als hätte
er nur darauf gewartet, zur Hauptgezähkammer und öffnet
die Tür. Heraus kommt - die Schachtziege! Aufgerüstet
mit bergmännischem Gezäh, läuft sie auf die Medizinergruppe
zu. Ihr Erscheinen bringt alle durcheinander. Paul Götz stiert,
stiert und stiert. Was er sieht, löst ein Gedankenchaos bei
ihm aus: Natürlich gibt es keine Schachtziege - aber hier
steht eine! Fantasiererei? Wirklichkeit? Sie wurde herunter gebracht
- aber wer hat sich diese Teufelei ausgedacht? Was sage ich nun
den Medizinern? Wer will mich damit in die Pfanne haun? Ihn verschlägt
es die Sprache, er findet keine Worte. Anders die Mediziner. Sie
reden zwar durcheinander, sind sich aber einig, daß es die
Schachtziege, niedlich, vertraulich, fröhlich meckernd, wirklich
gibt. Über alles erhebt sich schließlich wieherndes
Gelächter der Füllorttruppe. Sie haben auch allen Grund
dazu. Nachdem der Lärm abebbt, wendet sich ein Kumpel an
die Delegation: "Sie werden heute Zeuge der letzten Grubenschicht
der Schachtziege. Sie wird nach Übertage gebracht, um bessere
Zeiten zu erleben als hier unten!"
Wie die Ziege in die Grube kam? Wie Paul Götz die Sprache
wiederfand und sich vergeblich um Aufklärung mühte?
Nun - das ist schon eine neue Geschichte...